Policing als Kategorisierungspraxis – Wechselseitige Zuschreibungen bei Kontrollhandlungen im öffentlichen Raum

In der Folge der Ermordung von George Floyd, der US-Bewegung Black Lives Matter und der Aufdeckung von WhatsApp-Chatgruppen bei mehreren Landespolizeien ist Rassismus zu einem Schlüsselbegriff geworden, mit dem die Polizei in der Bundesrepublik assoziiert wird. Insbesondere gewalttätige Konflikte zwischen Polizist*innen und feiernden Jugendlichen an sog. Brennpunkten werden im Kontext von Migration oder rassistischer Polizeipraktiken diskutiert.

In Fortsetzung des DFG-Projekts „Polizei-Translationen“ wird das Projekt ethnographisch erforschen, wie sich Akteur*innen in alltäglichen Policing-Interaktionen, also bei Kontroll- und Überwachungshandlungen im öffentlichen Raum, wechselseitig kategorisieren und welche Auswirkungen die jeweiligen Kategorien auf die Interaktionen haben. Mit dieser Fragestellung erweitert das Projekt öffentliche und wissenschaftliche Diskurse, aber auch die Fragestellung des Ausgangsprojekts in zwei Richtungen: Statt einen oft verengten Blickwinkel auf die Polizei einzunehmen, untersucht das Projekt auch die städtischen Ordnungsbehörden, private Sicherheitsdienste, Gewerbetreibende, Anwohner*innen und nicht zuletzt die Jugendlichen selbst als handlungsmächtige Akteur*innen, die alle auch Policing praktizieren oder abwehren. Zweitens gibt dieser Forschungsansatz die entscheidenden Differenzkategorien nicht vor. Denn obwohl Rassifizierung, Ethnisierung und Kulturalisierung wichtige Praxis aller beteiligten Akteur*innen ist, sind Alter, Devianz, Geschlecht, soziale Schicht, Religion, rechtliche Unterscheidungen, regionale Herkunft, Sprachkompetenz und andere Kategorien nicht weniger handlungsrelevant und untrennbar mit den vorher genannten verknüpft.

Foto: Ramona Huber

Die Operationalisierung dieser Ansätze erfolgt per vergleichender ethnographischer Forschung im Team an zwei – von den Akteur*innen einschließlich der Medien so definierten – Brennpunkten im erweiterten Rhein-Main-Gebiet. Zu den Brennpunkten zählen auch Fußballspiele, bei denen wechselseitige Zuschreibungspraktiken und das konfliktbehaftete Verhältnis zwischen Fußballfans und Polizeieinsetzkräften im Zentrum der ethnographischen Forschung stehen werden. Feldforschung bei sich voneinander abgrenzenden, sich misstrauenden und in asymmetrischen Machtbeziehungen aufeinander bezogenen Akteursgruppen ist nur im Team möglich, bei der einzelne Feldforscher*innen jeweils spezifische Akteursgruppen teilnehmend beobachten. Damit leistet das Projekt einen Beitrag zur Erweiterung des Methodenspektrums der Ethnologie.

“Policing als Kategorisierungspraxis” zielt darauf ab, ein öffentlich und in der Wissenschaft vieldiskutiertes Thema auf innovative Weise zu erforschen, um daraus Beiträge für Polizei-, Sicherheits-, Staats- und Migrationsforschung zu entwickeln. Das Projekt hat das Potential, diese Forschungsfelder zu erweitern und zu „ethnologisieren“: durch Erkenntnisse und Begriffe, die auf empirischer Basis im Globalen Süden entwickelt wurden; durch ethnographische Sensibilität, die Handeln im Kontext, emische Begriffe und unterschiedliche Sichtweisen entwickelt; und durch eine offene und reflektierte Positionierung der epistemologischen Äquidistanz, die Widersprüche nicht auflöst, sondern aufzeigt.

 

Veröffentlichungen

(Auswahl, inklusive Vorgängerprojekt Polizei-Translationen; vollständige Liste als PDF)

2023 Beek, Jan, Bierschenk, Thomas, Kolloch, Annalena und Bernd Meyer. Hrsg.: Policing race, ethnicity and culture: ethnographic perspectives across Europe. Manchester: Manchester University Press. 330 pp.; ISBN 9781526165589.

2023 Beek, Jan und Marcel Müller. Talking with hands and feet: Language differences and translation in German policing. In Policing race, ethnicity and culture: ethnographic perspectives across Europe, hrsg. von Beek, Jan, Bierschenk, Thomas, Kolloch, Annalena und Bernd Meyer, S. 219-239. Manchester: Manchester University Press.

2023 Beek, Jan. Policing and categories of difference. In Handbook of police ethnography, hrsg. von Fleming, Jenny und Sarah Charman. London: Routledge. [ISBN 9781003083795]

2023 Huber, Ramona: Jugendliche am Rheinufer in Mainz – Praktiken und Diskurse(Arbeitspapiere des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 23). Mainz: Ifeas. https://www.ifeas.uni-mainz.de/files/2023/03/AP203_Huber_Jugendliche-am-Rheinufer-in-Mainz.pdf.

2023 Kolloch, Annalena und Bernd Meyer. Inclusive and non-inclusive modes of communication in multilingual operational police training. In Policing race, ethnicity and culture: ethnographic perspectives across Europe, hrsg. von Beek, Jan, Bierschenk, Thomas, Kolloch, Annalena und Bernd Meyer, S. 195-218. Manchester: Manchester University Press.

2022 Beek, Jan. Die Kategorie Kultur in der Polizeiarbeit. Kontinuitäten und Umbrüche. In Polizei(en) in Umbruchsituationen: Herrschaft, Krise, Systemwechsel und offene Moderne, hrsg. von Grotum, Thomas, Haase, Lena und Georgios Terizakis, S. 385-398. Wiesbaden: Springer VS.

2022 Müller, Marcel. Der Umgang mit Differenz in der Polizeiarbeit. Eine auto-ethnographische Untersuchung. Dissertation, Institut für Ethnologie und Afrikastudien, FB 07, JGU Mainz.

2021 Bierschenk, Thomas, und Jean-Pierre Olivier de Sardan. The anthropology of bureaucracy and public services. In Encyclopedia of public administration (Oxford research encyclopedia of politics), hrsg. von Peters, Guy und Ian Thyme. Oxford: Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/acrefore/9780190228637.013.2005.

2021 Bierschenk, Thomas. Postface: Brokerage as social practice. Cultural Dynamics 33 (3), 418-425.

2021 Kolloch, Annalena. 2021. “I understand the culture. So, I understand who is lying” – Language and cultural mediators as brokers and para-ethnologists. The Mouth 8: 110-129.

2021a Müller, Marcel. Umgang mit Differenz am Beispiel von Verkehrskontrollen. Eine auto-ethnografische Forschung im Rahmen der Ausbildung von Kommissar-Anwärter/innen. Frankfurt a.M.: Verlag für Polizeiwissenschaft.

2021b Müller, Marcel. Was ist Auto-Ethnografie? Eine Positionierung vor dem Hintergrund einer ethnologischen Forschung zur Polizei und Sicherheit (Arbeitspapiere des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 194). Mainz: Ifeas. https://www.ifeas.uni-mainz.de/files/2021/02/AP_194.pdf

2020a Beek, Jan und Thomas Bierschenk. Hrsg. Bureaucratic practices and cultural difference Sociologus 70 (1), Special Issue.

2020b Beek, Jan und Thomas Bierschenk. Bureaucrats as para-ethnologists: the use of culture in state practices. Sociologus 70 (1): 1-17.

2020 Staut, Jonathan, und Thomas Bierschenk. Polizei und Sicherheit. Wahlprogramme der deutschen politischen Parteien im Vergleich (Arbeitspapiere des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 193). Mainz: Ifeas. https://www.ifeas.uni-mainz.de/files/2020/07/AP_193.pdf

2019 Bierschenk, Thomas und Jean-Pierre Olivier de Sardan. How to study bureaucracies ethnographically. Critique of Anthropology 39 (2): 243-257.

 

Das Projekt in den Medien

„Wer trifft am Winterhafen aufeinander? Forscher der Uni haben sich die Beteiligten über längere Zeit genau angeschaut“, Mainzer Allgemeine Zeitung, 06. April 2022, von Paul Lassay und Nicholas Matthias Steinberg. https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/stadt-mainz/mainzer-winterhafen-willkuer-und-politisches-versagen-1797698.

„Studie zum Polizeialltag: Umgang mit sprachlichen und kulturellen Differenzen“. Deutschlandfunk, Aus Kultur und Sozialwissenschaften, 11. März 2021, von Michael Stang. https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=909115.

"Polizei und Rassismus: Unter Verdacht“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. November 2020, von Friederike Haupt. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/untersuchung-wegen-rassismus-vorwuerfen-bei-der-polizei-17062454.html.

"Die Angst vor dem, was der Beruf mit einem macht“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22. November 2020, von Friederike Haupt. https://zeitung.faz.net/fas/politik/2020-11-22/die-angst-vor-dem-was-der-beruf-mit-einem-macht/534923.html.

"Umgang der Polizei mit anderen Kulturen", SWR 4 Rheinland-Pfalz, "Am Mittag", 28. Oktober 2020.

"Mainzer Studie: Polizeiarbeit und die bunte Gesellschaft“, Mainzer Allgemeine Zeitung, 26. Oktober 2020, von Paul Lassay. https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/nachrichten-mainz/mainzer-studie-polizeiarbeit-und-die-bunte-gesellschaft_22486557.

 

Konferenzen und Panels

2022, Police officers at work [AnthroState]. Panel organisiert von Thomas Bierschenk, Jérémie Gauthier und David Sausdal, Belfast, EASA 2022 (26.-29. Juli)

2022, Collaborative Research and Writing. Workshop organisiert von Jan Beek, Lisa Borrelli und Anna Wyss, Neuchâtel (5.-6. Mai)

2020, Politicized bureaucrats in and beyond Europe. Conflicting loyalties, professionalism and the law in the making of public services [LAWNET]. Panel organisiert von Sophie Andreetta und Annalena Kolloch, EASA 2020 (20.-24. Juli)

2020, Police-Translations: The Construction of Cultural Difference in European Police Work. Konferenz organisiert von Jan Beek, Thomas Bierschenk, Annalena Kolloch, Bernd Meyer, JGU Mainz (13.-15. Februar) Plakat, Programme

2019, Denied translations. Panel organisiert von Jan Beek, Thomas Bierschenk und Bernd Meyer bei der DGSKA Tagung, Konstanz (30. September)