Filmreihe: Ethnofictions. Das Kino von Jean Rouch

Jean Rouch (2017-2004) gilt als einer der wichtigsten ethnographischen Dokumentarfilmer seiner Zeit. Er hat mit seinem Konzept des cinéma vérité nicht nur die visuelle Anthropologie revolutioniert, sondern auch Regisseure der Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und andere maßgeblich beeinflusst. Eine zusätzliche Bedeutungsdimension erhält sein umfangreiches Werk durch die gegenwärtige Debatte über Kolonialismus und Rassismus: Themen, mit denen Jean Rouch sich schon früh kritisch auseinandergesetzt hat.

Die Filme der siebenteiligen Reihe werden durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler moderiert, die mit Rouchs Werk vertraut sind. Die Retrospektive ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Ethnologie und Afrikastudien (Prof. Krings), dem Institut für Film-, Theater, Medien- und Kulturwissenschaft (Prof. Schneider) und dem Zentrum für Frankreich- und Frankophoniestudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dem Frobenius-Institut (Prof. Kohl) der Goethe-Universität Frankfurt sowie dem Institut Francais und dem CinéMayence (Mainz).

Die Filme werden im frz. Originalton mit englischen Untertiteln oder in englischer Sprachfassung gezeigt. Moderationen auf Deutsch oder Englisch.

Eintritt ist frei, um Reservierung wird gebeten (https://www.cinemayence.de/info.html ). Teilnehmer:innen des Seminars „Ethnografie und Film im Werk von Jean Rouch“ müssen keine Reservierung vornehmen.

 

3.11.    La chasse au lion à l’arc (1965) 81 min, Niger/Frankreich, OmEngU

            Moderator: Matthias Krings (Mainz)

Rouch und sein Filmteam nehmen uns mit auf Löwenjagd im Grenzland zwischen Niger und Mali. In dieser abgelegenen Gegend leben Fulbe-Hirten mit ihrem Vieh. Wenn ein gesundes Rind von einem Löwen angefallen aber nicht gefressen wird, wenden sich die Hirten and die Gow, eine Kaste von Jägern, die dem Volk der Songhay angehören und auf die Löwenjagd mit Pfeil und Bogen spezialisiert sind. Rouch begleitet eine solche Gruppe von Jägern, die einem Löwen namens ‚Anasara‘ (‚Europäer‘) jagen, der sich am Vieh der Fulbe vergeht. Wir sehen die Vorbereitungen zur Jagd: das Fertigen der Pfeile, die rituelle Herstellung des Pfeilgifts, das Jagd-Orakel und das Testen des Gifts an kleineren Raubkatzen, schließlich die Jagd, bei der ein junger Löwe und eine Löwin, die Gefährtin des ‚Europäers‘, erlegt werden. Der Film ist das Produkt eines kollaborativen Verfahrens, an dem Filmemacher und Gefilmte gleichermaßen beteiligt sind, das Rouch als „geteilte Ethnologie“ bezeichnet hat. Er geht auf die Anregung Tahirou Koros zurück, eines der im Film portraitierten Jäger, der Rouchs älteren Film über die Flußpferdjagd am Niger (Bataille sur le grand fleuve, 1954), während einer der Filmvorführungen gesehen hatte, die Rouch üblicherweise an seinen Drehorten durchführte.

Ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen, Internationales Filmfestival von Venedig, 1965.

 

24.11.  Les maitres fous (1956) 29 min, Ghana/Frankreich, OmEngU

Moderator : Souleymane Diallo (Münster)

Les maitres fous ist einer der bekanntesten und kontroversesten ethnografischen Filme überhaupt. Er zeigt ein Ritual des Hauka-Kults, den Arbeitsmigranten aus dem Niger an die Goldküste, das spätere Ghana, brachten, wo er sich zu ihrer zentralen religiösen Institution entwickelte. Hauka sind die Geister der kolonialen Moderne, sie tragen französische Namen und Ränge des Militärs, wenn ihre Anhänger in Trance von ihnen ergriffen werden, exerzieren sie, brüllen Kommandos und beweisen ihre Unverwundbarkeit im ‚Spiel mit dem Feuer‘. Das gefilmte Ritual lässt sich mit Fritz Kramer als „inverse Ethnografie“ verstehen, in der Kolonisierte mit den Mitteln des Trance-Rituals getanzte Bilder der kolonialen Herrschaft und ihres ambivalenten Personals entwerfen. Rouch deutet es als Katharsis.

 

1.12.    Jaguar (1967) 93 min, Ghana/Frankreich, OmEngU

Moderatorin: Anja Dreschke (Köln)

Der Film begründet Rouchs ethnofiktionalen Ansatz: seine Freunde und Mitarbeiter, Lam Ibrahim, Damouré Zika und Illo Gaoudel begeben sich auf eine Reise, ganz ähnlich wie tausende Arbeitsmigranten, die alljährlich aus den französischen Kolonien im Sahel an die Metropolen der westafrikanischen Küste migrieren. Auf dem Landweg reisen die drei Freunde aus Niger nach Accra, das Zentrum der britischen Kolonie Goldküste. „JAGUAR erscheint als gutgelaunter Film über bestandene Abenteuer und Bewährungsproben, aber er entwickelt sich durch seltsame Auspizien, Verkehrsunfälle und mehrdeutige Orakel an Weggabelungen: Die Reise ist gut, sie ist sehr gut, aber sie bleibt gefährlich und kann jederzeit zu Ende sein. Die Reise war ein Tanz auf dem Vulkan: Kurz danach war es mit der Kolonie ‚Gold Coast‘ vorbei und es entstand der erste, der panafrikanische Staat ‚Ghana‘. Diese Reise sollte für immer fortwirken, denn die Filmtätigkeit der Reise bildete die Grundlage für das gesamte Schaffen von Rouch, für fünfzig Jahre Arbeit und Freundschaft.“ (Erhard Schüttpelz und Anja Dreschke). Der bereits 1954 gedrehte Jaguar wurde zum Referenzfilm der Nouvelle Vague, Godard lobte ihn mehrfach, Rosselini nutzte ihn als Inspiration für Inde, terre mère (1959).

 

8.12.    Moi un noir (1959) 74 min, Cote Ivoire/Frankreich, OmEngU

Moderatorin: Cassis Kilian (Mainz)

Der Film zeigt das Leben afrikanischer Wanderarbeiter in Treichville, einer Vorstadt von Abidjan, am Vorabend der Unabhängigkeit der Elfenbeinküste. Drei junge Männer, die aus dem Niger stammen, agieren unter den Namen berühmter Filmstars. Oumarou Ganda, der als Edward G. Robinson auftritt, erzählt den Film und kommentiert das Geschehen. Thematisch und formal knüpft der Film an Jaguar an, den Rouch 1954 in Ghana gedreht, aber erst 1967 veröffentlicht hat: es geht um die Migration in die Küstenmetropolen Westafrikas, spätkoloniale Herrschaftsverhältnisse und die Proletarisierung in den Städten. In Moi, un noir tritt das ethnofiktionale Moment sogar noch deutlicher in den Vordergrund. „Die Charaktere spielen nicht nur vor der Kamera, sie leben bereits ein fiktionales Leben in Treichville, das sich von der Realität in ihren Heimatdörfern stark unterscheidet. Die Übernahme von Filmstarnamen -und -rollen wird als ein Weg gesehen, mit dem Stadtleben fertigzuwerden. Rouch: ‚Ich zögerte nicht, die Dimensionen des Imaginären, des Unwirklichen einzuführen - wenn eine Figur träumt, er würde boxen, so boxt er… das ganze Problem besteht darin, dem Betrachter eine gewisse Ernsthaftigkeit zu bewahren, nie die Tatsache zu verbergen zu suchen, dass dies ein Film ist…” (Freiburger Filmforum).

 

12.1.    La pyramide humaine (1961) 93 min

Moderatorin : Michaela Schäuble (Bern)

Indem Rouch eine Gruppe von schwarzen und weißen Schüler:innen eines Gymnasiums in Abidjan dazu bewegt, einen Film über ihren durch rassistische Vorurteile geprägten Alltag zu machen, ist der Film soziales Experiment und Ethnofiction zugleich. Die fiktive Geschichte, entwickelt sich in Folge der Ankunft einer aus Paris eintreffenden neuen ‚weißen‘ Schülerin mit progressiven Idealen. Zu Beginn zeichnet sich die Überwindung der ‚Rassentrennung‘ im Zuge gemeinsamer Freizeitaktivitäten ab und es entstehen Freundschaften, die quer zu den rassisierten Zugehörigkeiten liegen. Durch Rivalitäten zwischen ‚schwarzen‘ und ‚weißen‘ Schülern, die um die Gunst der Neuen buhlen, wird der Freundeskreis jedoch wieder entlang der alten Trennlinien polarisiert. Jenseits der fiktiven Geschichte zieht Rouch für den Film – als soziales Experiment - jedoch eine positive Bilanz. Im Epilog sagt er: „Der Film ist zu Ende, noch viel wichtiger aber ist, was hinter der Kamera geschah. Was viele Jahre gemeinsam im Klassenzimmer nicht haben erreichen können, konnte ein einfacher Film: für diese zehn Personen gibt es keinen Rassismus mehr. Der Film ist zu Ende, aber die Geschichte geht weiter.“

 

26.1.    Chronique d’un été (1961) 90 min

Moderatorin: Caroline Zéau (Paris)

Gründungsdokument des cinéma vérité französischer Prägung. Gemeinsam mit dem Soziologen Edgar Morin und einigen Freund:innen macht sich Jean Rouch im Sommer 1960 auf, um mit der Kamera in den Straßen und Cafés von Paris im Gespräch mit jungen Leuten den Begriff Glück zu erforschen. Wie schwer und einfach zugleich diese Vorstellungen in Worte zu fassen sind, ist Form und Gegenstand des Films. Rouch und Morin trieben dabei folgende Fragen um: Ändert die sichtbare Anwesenheit der Kamera nicht die Wirklichkeit? Wird die Wirklichkeit nicht gespreizt und aufgeputzt in Erscheinung treten, ihre eigentliche Substanz die Spontaneität einbüßen und erstarren? Oder könnte andererseits dieses Zusammentreffen von Kamera und Wirklichkeit nicht einen neuen Typ von Wahrheit hervorbringen, der in einem Dialog zwischen Beobachter und Beobachtetem steht, wobei der Beobachter durch Fragen an den Beobachteten Dinge enthüllt, die ohne diese Begegnung nicht zutage gekommen wären?

 

9.2.      Petit à petit (1971) 96 min

Moderator: Abdoulaye Sounaye (Berlin)

Ein Film, der parodistische Elemente einer inversen Ethnografie enthält. Rouchs langjährige Freunde und Filmpartner Damouré Zika und Lam Ibrahim reisen in fiktiven Rollen nach Paris, um dort zu erforschen, wie die Franzosen in ‚mehrstöckigen Häusern‘ leben. Denn Damouré, Inhaber eines Bauunternehmens im Niger, will in Niamey das erste Hochhaus bauen. Als er in Paris ankommt, wo später auch sein Freund Lam zu ihm stößt „widmet sich der Möchtegern-Unternehmer einem ätzenden Porträt der französischen Gesellschaft in Form einer Erkundung, die ihn dazu führt, in Begleitung zweier Sekretärinnen und eines Clochards in die Heimat zurückzukehren“ (Nicola Brarda)

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