Wie verhandeln Betroffene katastrophenhafter Ereignisse Verantwortung für das Geschehene und das Recht darauf, im Nachgang staatliche und nicht-staatliche Fürsorge zu erfahren? Welche sozialen Kategorien mobilisieren sie in derartigen Prozessen? Wie konstituieren sich Beziehungen zwischen verschiedenen beteiligten Akteur:innen, die auf unterschiedliche Art und Weise betroffen sind? Und auf welche anderen, vorausgegangenen oder parallelen Ereignisse nehmen die verschiedenen Akteur:innen dabei wie Bezug? In der Gemeinde Brumadinho, im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, verarbeitet die Stadtgemeinschaft seit Januar 2019 den Zusammenbruch des Abraumbeckens einer Eisenerzmine des multinationalen Bergbaukonzerns Vale, S.A. Die losgelöste Welle giftigen Schlamms tötete 272 Menschen und zerstörte das angrenzende Talgebiet. Schwermetallbelasteter Abraum gelangte auch in das Flussbett des nahegelegenen Rio Paraopeba, weswegen viele der am und vom Fluss lebenden Menschen ihre Lebensgrundlagen verloren haben; dies vor allem, da seither sämtliche landwirtschaftlichen Erträge der Region als kontaminiert gelten. Indem es den andauernden Wiedergutmachungs- und (rechtlichen) Kompensationsprozess nach dem Zusammenbruch des Absatzbeckens in Brumadinho ethnographisch untersucht, nimmt dieses Projekt die Aushandlungen von Verantwortlichkeiten und Anspruchsberechtigungen in den Blick.
Der Zusammenbruch des Abraumbeckens traf die Stadtgemeinschaft Brumadinhos gänzlich unvorbereitet und war auch von den Minenbetreibern als unabsehbar dargestellt worden. In der Zwischenzeit weisen Ermittlungen jedoch darauf hin, dass ein Sicherheitszertifikat für den Rückhaltedamm im September 2018 unter fragwürdigen Bedingungen ausgestellt wurde. In der Annahme, dass sowohl Vale S.A. als auch die Prüfgesellschaft TÜV Süd Brasil um die Instabilität des Absatzbeckens wussten, vermeiden die Betroffenen es heute, das Ereignis als „Desaster“, „Tragödie“, „Umweltkatastrophe“ oder auch „Arbeitsunfall“ zu deklarieren. Um gleichermaßen seinen menschengemachten, vorsätzlichen Charakter zu verdeutlichen, bezeichnen sie den Zusammenbruch des Absatzbeckens als “tragédia-crime” („Tragödie-Verbrechen”) oder “desastre-crime” („Desaster-Verbrechen”). Gleichzeitig ordnen die Betroffenen das Geschehene auch zeitlich und räumlich auf zweifache Weise ein: Einerseits stellte der Zusammenbruch des Absatzbeckens im Januar 2019 eine spezifische Ausnahmesituation dar, die die Stadtgemeinschaft in ihren Grundfesten erschüttert und sozioökonomisch verändert hat. Während das Ereignis als solches zu einem festen Bestandteil lokaler Erinnerungspraktiken wird, bildet es gleichzeitig den affektiv-politischen Ausgangspunkt für Forderungen nach Reformen im Bergbausektor. Andererseits fügt sich das in Brumadinho Geschehene dadurch auch in eine historisch-prozessuale Auffassung ein, die den Dammbruch sowie seine (un)mittelbaren Folgen als einen Kulminationspunkt anhaltender post-kolonial geprägter soziopolitischer Gesellschaftsstrukturen und Machtverhältnisse begreift. Die diesem Verständnis zugrundeliegenden lokalen Gemengelagen operieren dabei im Schatten eines in Brasilien nach wie vor wirkmächtigen nationalen Fortschritts- und Entwicklungsnarrativs, welches durch zeitgenössische Debatten – wie etwa der Klima- und Umweltbewegung oder der mit De-Kolonisierungsbestrebungen verbundenen Kritik an extraktiven Ökonomien in Lateinamerika – jedoch zunehmend in Frage gestellt wird.
Mit dem Ziel, die Verbindungen zwischen den lokalen und brasilianisch-nationalen ebenso wie globalpolitischen Diskursen nachzuzeichnen und dadurch aufzuzeigen, wie diese sich im Nachgang des Zusammenbruchs des Absatzbeckens in Brumadinho entfalten bzw. durch das Geschehene in Brumadinho zusammengebunden werden, untersucht das Forschungsprojekt drei verschiedene Aspekte und Akteursebenen genauer: Indem es die institutionellen Alltagspraktiken einer Abteilung an der Schnittstelle des städtischen Gesundheits- und Sozialamts in Brumadinho begleitet, vollzieht die Forschung die verwaltungstechnischen und -praktischen Prozesse der Aushandlung von Anspruchsberechtigung auf kommunaler Ebene nach. Um nachzuspüren, wie die Betroffenen sich in der Öffentlichkeit politisches Gehör verschaffen, nimmt das Projekt bspw. an öffentlichen Anhörungen, an Mobilisierungstreffen der Gemeindeverbände im Stadtgebiet oder auch der NGOs, die die betroffenen Menschen entlang des Paraopeba rechtstechnisch beraten, teil; ebenso sucht es den Austausch mit darin involvierten kommunal- und landespolitischen Repräsentant:innen und Mitarbeiter:innen. Darüber hinaus begleitet die Forschung Jahrestage und andere Gedenkveranstaltungen mit Bezug zum Zusammenbruch des Absatzbeckens, um die mit der politischen Mobilisierung verbundenen Erinnerungspraktiken zu verstehen. Zu guter Letzt geht das Projekt durch die dichte Teilnahme am Alltag verschiedener betroffener Stadtgebiete der Frage nach, wie sich die dort lebenden Menschen mit ihrer belebten und nicht-belebten Umwelt auseinandersetzen und in welchen alltäglichen Momenten die vergangene Katastrophe zum Ausdruck kommt.
Publikationen
2024 Mentrup, Theresa. „Die Katastrophe von Brumadinho und die deutsche Verantwortung.“ In Blätter für deutsche und internationale Politik 01’24, S. 29-33; auch online verfügbar: https://www.blaetter.de/ausgabe/2024/januar/die-katastrophe-von-brumadinho-und-die-deutsche-verantwortung.
2023 Mentrup, Theresa. “Repercussions of Responsibility: Retracing Transnational Moral Obligations after the Brumadinho Dam Collapse.” In Morality as Organizational Practice: Negotiating, Performing, and Navigating Moral Standards in Contexts of Work, hrsg. von Sarah May, Stefan Groth & Johannes Müske, S. 153-168. Münster: Waxmann.
Konferenzbeiträge
2022, “Of mud and men: Negotiating ‘risk’ after the ‘Brumadinho dam disaster’ (Minas Gerais / Brazil),” Laboratoriumsbeitrag von Theresa Mentrup im Rahmen des 6th Vienna Ethnography Lab “Relating Risks” der Universität Wien / Österreich (28.-30. September 2022).
2022, “‘Quanto Vale a vida?’ Retracing everyday life after the ‘Brumadinho dam disaster’ (Minas Gerais / Brazil),” Konferenzbeitrag von Theresa Mentrup auf dem VIII. Kongress der Associação Portuguesa de Antropologia (APA) “Os Novos Anos 20: Desafios, Incertezas e Resistências” an der Universität Évora / Portugal und online (7.-9. September 2022).
Das Projekt in den Medien