Die Aushandlung von Kultur durch Video-Spielfilme und Bongo Fleva-Musik in Tansania

links: Saidawk a.k.a. Ghetto King bei der Aufnahme
eines Bongo Flava Songs im Tonstudio Sei Records
in Dar es Salaam (2009, ©Uta Reuster-Jahn).

In Tansania hat die in den 1980er Jahren einsetzende Liberalisierungspolitik einen tief greifenden Wandel der populären Kulturproduktion bewirkt. Durch die Privatisierung der Medien und neue Produktions- und Distributionstechniken sind eine neue Musikszene, genannt Bongo Fleva, sowie ein blühender Markt swahilisprachiger Videospielfilme entstanden. Beide Bereiche überschneiden sich im Genre des Musikvideos.

Das Projekt geht von der Arbeitshypothese aus, dass sich Videospielfilme und Bongo Fleva-Musik als Foren untersuchen lassen, in denen Praktiken und Diskurse unterschiedlicher Herkunft aufeinander treffen und zu neuartigen Synthesen verbunden werden. Insbesondere Angehörige der jüngeren Generation (in Tansania auch als kizazi kipya „neue Generation“ bezeichnet) nutzen diese Foren, um ihre Sichtweisen auf Kultur und Gesellschaft zu artikulieren und damit selbst Prozesse kultureller und sozialer Transformation in Gang zu setzen. Die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit in diesen Foren wird zwischen verschiedenen professionellen Gruppen mit je eigenen politischen und ökonomischen Interessen und Machtressourcen ausgetragen. Hierzu zählen Künstler, Schauspieler und Regisseure, sowie kommerzielle Produzenten, Redakteure und Moderatoren ebenso wie staatliche Kulturpolitiker und Zensoren. Das Projekt fasst diese Prozesse der Auseinandersetzung als Formen der Aushandlung auf und zielt darauf ab, sie sowohl anhand der Videospielfilme, Songs und Videoclips als auch anhand der Produktions- und Rezeptionspraktiken zu untersuchen. Dabei soll einerseits nach den spezifischen Verbindungen von lokalen und globalisierten Bildern, Texten und Klängen gefragt werden, andererseits nach den Motiven, Strategien und Taktiken der an Produktions- und Rezeptionsprozessen beteiligten Akteure.

Mawingu Studio, Dar es Salaam
(2007, ©David Eschrich).

Hinterhof eines Videokinos in Mkula,
Tansania (2007, ©Claudia Böhme).

Dreharbeiten zum Film Village Pastor
(2008, ©Claudia Böhme).

Das übergeordnete Ziel des Projektes besteht im Vergleich der beiden Foren, die auf unterschiedlichen Medien (Radio, Audiokassette, CD, und Live-Performanz im Falle der Bongo Fleva-Musik; Videokassette, VCD, DVD und TV im Falle der Musikvideoclips und der Videospielfilme) und einem je eigentümlichen Zusammenspiel visueller und auditiver Ausdrucksweisen basieren. Von der These ausgehend, dass beide Foren neue audiovisuelle Öffentlichkeiten konstituieren, soll untersucht werden, inwieweit die mediale Differenz von Bildern und Texten, auf die die Debatten um den so genannten pictorial turn (Mitchell) bzw. die ikonische Wendung der Moderne (Böhm) aufmerksam gemacht haben, von Produzenten und Rezipienten produktiv genutzt wird. Bewegte und unbewegte Bilder einerseits, Filmdialoge und gesungene Liedtexte andererseits, bergen unterschiedliche Potentiale zur Generierung und Dekodierung von Bedeutung. Wie machen sich Produzenten von Videofilmen, Bongo Fleva-Musik und -Videoclips diese zu nutze? Wird auf der auditiven Ebene anders verfahren als auf der visuellen? Unterscheiden sich die beiden Foren in dieser Hinsicht? Wird auf der visuellen Ebene Eigenes und Fremdes, Altes und Neues nicht nur grundsätzlich anders vermittelt als auf der textuellen und musikalischen, sondern sogar etwas anderes artikuliert, das aufgrund kultureller Konventionen nicht ausgesprochen und gehört, wohl aber visualisiert und erblickt werden darf (oder umgekehrt)? Durch den Vergleich der beiden Foren ließen sich demnach ebenfalls Hypothesen über das Sehen und das Hören als kulturelle Praxen in Tansania entwickeln. Das Projekt knüpft damit an Debatten zum Sehen, Blicken und Beobachten an, die über westliche Wahrnehmungspraxen bereits seit längerem geführt werden (Böhm, Crary, Mitchell) sowie an aktuelle Ansätze, die ebenfalls das Hören als kulturelle Praxis thematisieren (Erlmann, Schmidt).

Publikationen

Claudia Böhme

2013: 'Look With Your Own Eyes!' Visualization of Spirit Media and their Viewing Techniques in Tanzanian Video Films”. In: Heike Behrend, Anja Dreschke, Martin Zillinger (Hg.): Trance Mediums and New Media. New York: Fordham University Press (im Druck).

2013 Bloody Bricolages: Traces of Nollywood in Tanzanian video films. In: Matthias Krings und Onookome Okome (Hg.): Global Nollywood: The Transnational Dimensions of an African Video Film Industry. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press, 327-346.

2012 'Action, Cut and Roll!' The Language Question in the Tanzanian Video Film Industry. In: Jana Gohrisch and Ellen Grünkemeier (Eds.): Listening to Africa: Anglophone African Literatures and Cultures. (Anglistik & Englischunterricht 80). Heidelberg: Winter.

2011 White Elephant: Die Aushandlung von Kultur in der tansanischen Videofilmindustrie. Mainz: Johannes Gutenberg-Universität (Dissertation).

Matthias Krings

2013 Karishika with Kiswahili Flavor: A Nollywood Film Retold by a Tanzanian Video Narrator, in: Matthias Krings und Onookome Okome (Hg.): Global Nollywood. The Transnational Dimensions of an African Video Film Industry. Bloomington: Indiana University Press, 306-326

2012 Meet Lance Spearman - Your Favourite Crime-Buster, in: Anja Oed & Christine Matzke (Hg.): Life is a Thriller: Investigating African Crime Fiction. Köln: Köppe, 35-49.

2010 Mediale Basteleien - wie in Afrika fremde Bilder in eigene verwandelt werden, in: Natur & Geist. Forschungsmagazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1/2010: 57-60.

2010 A prequel to Nollywood: South African photo novels and their pan-African consumption in the late 1960s, in: Journal of African Cultural Studies 22,1: 75-89.

2010 Nollywood goes East. The localization of Nigerian video films in Tanzania, in: Mahir Saul & Ralph A. Austen (Hg.): Viewing African Cinema in the Twenty-First Century: Art Films and the Nollywood Video Revolution. Athens OH: Ohio University Press, S. 74-91.

Uta Reuster-Jahn

2012 'Am walking on the way kuiseti future yangu.' The use of English in Bongo Flava Music in Tanzania. In: Jana Gohrisch und Ellen Grünkemeier (Hrsg.), Listening to Africa: Anglophone African Literatures and Cultures (Anglistik & Englischunterricht 80). Heidelberg: Winter. S. 145-173.

2012 "Mr. President": Musical Open Letters as Political Commentary in Africa. Africa Today 59, 1: 89-113 (mit Daniel Künzler).

2011. The Bongo Flava industry in Tanzania and artists’ strategies for success. Working Papers of the Department of Anthropology and African Studies, Johannes Gutenberg University of Mainz, 127 (24 Seiten). URL: http://www.ifeas.uni-mainz.de/workingpapers/AP127.pdf. (mit Gabriel Hacke).

2010 Kuna kupanda na kushuka, bwana! (There is rise and there is fall, man!) Reflections on the Music Business in Bongo Fleva Song Lyrics. In: Mitchel Strumpf und Imani Sanga (Hrsg.), Readings in Ethnomusicology. A Collection of Papers Presented at Ethnomusicology Symposium 2010. Dar es Salaam: Department of Fine and Performing Arts, University of Dar es Salaam. pp. 117-129.

2010 Jugend, Musik und Politik in Tansania. Bongo Fleva – die Musik der neuen Generation. Habari 3 u. 4 (2010): 157-169.